Der Bundesgerichtsentscheid «2C-971/2011» lässt aufhorchen: Er stützt den Entscheid des Kantons Schwyz, im Falle eines Sekundarschülers mit einer zentral-auditiven Wahrnehmnungsstörung dem Wunsch der Eltern nach Schulung in einem Sonderschulinternat nicht nachzukommen – trotz unterstützendem Gutachten des kantonalen schulpsychologischen Dienstes (NZZ vom 22. Mai 2012, online-Link, pdf-Datei). Interessant sind die Begündungen im ausführlichen Bundesgerichtsentscheid (ich beschränke mich auf einige wenige Aspekte):
⇒ Die Vorgaben des Schweizerischen Behindertengleichstellungsgesetzes und des Sonderpädagogischen Konzepts des Kantons Schwyz, dass integrative Lösungen wenn immer möglich Vorrang vor separativen Schulungsformen haben sollen, wird stark gewichtet.
⇒ Es besteht für alle Schülerinnen und Schüler (ob behindert oder nicht behindert, ob im Rahmen einer Regel- oder Sonderschule) grundsätzlich kein Recht auf eine optimale, sondern lediglich auf eine angemessene Schulung. Das bedeutet unter anderem, dass Kinder und Jugendliche keine schulische Bevorzugung erhalten dürfen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen nicht ausreichend begründbar und nachvollziehbar ist (z.B. individuellere Schulung in kleiner Klasse oder umfassende Betreuung in einem Internat).
⇒ Der deutliche Kostenunterschied zwischen einer integrativen Förderung und einer Förderung im Rahmen eines Sonderschulinternats wird in die Erwägungen mit einbezogen.
Dieser Entscheid löst bei mir zweierlei Intentionen aus:
Einerseits freue ich mich darüber, dass der gesetzlich vorgegebene Vorrang integrativer Lösungen offenbar mehr als eine Worthülse ist. Vielmehr handelt es sich um eine Verpflichtung für alle Beteiligten.
Andererseits könnte das Bundesgerichtsurteil dazu verleiten, einzelnen Schülerinnen und Schülern mit bildungsrelevanten Beeinträchtigungen das Recht auf eine spezifische sonderpädagogische Unterstützung (ob im Rahmen einer Regel- oder Sonderschule) zu verwehren, weil hinter einer vordergründigen Normalisierungs- und Integrationsargumentation nüchtern-dominante Sparüberlegungen stehen. Betroffen wären vor allem Schülerinnen und Schüler, die über wenig Lobby (von Elternseite, von Seiten von Behindertenverbänden, von Seiten der Gesellschaft) verfügen.
Es ist wichtig, dass der Fokus nicht bloss auf einzelne Behinderungsmerkmale gesetzt wird («ein Kind mit der Behinderung X hat die Massnamen Y zugute»). Hier kann der verbindliche Einsatz des vor kurzem entwickelten Standardisierten Abklärungsverfahrens eine hilfreiche Orientierung bieten: Es fokussiert stark auf die Entwicklungs- und Bildungsziele und bleibt nicht bei der Diagnose stehen. Aufgrund dieser strukturierten Zieldefinition lässt sich unter allen Beteiligten – bis hin auf juristischer Ebene – klarer argumentieren und einschätzen, welche Schulungsform und welche Unterstützungsmassnahmen als angemessen und fair zu betrachten sind.
⇒ Lesenswerte Medienmitteilung (pdf-Datei) von insieme und Egalité Handicap