In den USA wird bereits jedem zehnten Kind die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zugeschrieben. Ähnlich rasant nehmen die diagnostizierten Autismusspektrumsstörungen (ASS) zu – auch in der Schweiz. Zwei lesenswerte Beiträge gehen der Frage nach, inwieweit diese Entwicklung hilfreich oder kontraproduktiv sei.
Der Kinderarzt Oskar Jenni – er leitet seit 2005 die Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich – plädiert für eine Anhebung der diagnostischen Schwelle (Artikel im Tages Anzeiger vom 20.04.2013, pdf 1.4 MB): Nur noch die schwersten Fälle sollen für eine psychiatrische Diagnose qualifizieren. Die Verhaltens- und Lernprobleme, die bei den «weicheren» Fällen bestehen, müssten durchaus ernst genommen werden, aber auf eine andere Art und Weise. Wichtig sei «die umfassende Beschreibung der Eigenheiten deines Kindes, seines Umfelds und der Probleme». Die inflationäre Zuschreibung dieser Diagnosen erachtet Jenni als kontraproduktiv. Er schliesst seinen Beitrag wie folgt: «Ein mutiger Schritt wäre, auf Diagnosen zu verzichten, die hauptsächlich auf subjektiven Einschätzungen beruhen und damit viel Interpretationsspielraum zulassen. Aber dazu ist die Zeit wahrscheinlich noch nicht reif.»
Eine ähnliche Haltung vertritt Alessia Schinardi vom Sozialpädiatrischen Zentrum in Winterthur (Beitrag im Schweiz Med Forum, 2011, pdf 0.5 MB): Viele Fälle, die ihr zur Begutachtung einer allfälligen ASS unterbreitet werden, seien durch Eltern, Lehrpersonen oder Fachpersonen der Schulpsychologie bereits inoffiziell diagnostiziert worden. Diese Praxis sei weit verbreitet, weil sie kurzfristig «Erleichterung, Entlastung und Entschuldigung» bewirke. Bei genauerem Hinschauen erwiesen sich die Probleme aber häufig als reaktive Störungen auf nicht optimale Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsbedingungen. Auch Schinardi betont, dass das Leiden der Beteiligten trotz des Verzichts auf die psychiatrische Diagnose ernst genommen werden muss. Es hilft aber mehr, die ursächlichen Zusammenhänge zu eruieren und anzugehen, als sich auf eine Diagnose abzustützen, die aus sich selbst heraus kaum handlungsleitend ist.
Genau dieses Ziel verfolgt das Standardisierte Abklärungeverfahren (SAV), das derzeit in mehreren Kantonen eingeführt wird: In systematischer Weise sollen alle relevanten diagnostischen Informationen dargestellt werden – bezüglich der Funktionsfähigkeit des Kindes sowie seines derzeitigen schulischen und familiären Umfelds (im SAV wird dieser erste Schritt als «Basisabkärung» bezeichnet). In einem zweiten Schritt werden Ziele definiert, der daraus folgende Bedarf ermittelt und geeignete Massnahmen vorgeschlagen («Bedarfsabklärung»). Allfällige Diagnosen wie ADHS oder ASS spielen hier durchaus eine Rolle, sind aber lediglich einzelne Puzzlesteine im Rahmen einer Gesamtsicht.